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Dienstag, 11. Mai 2010

Die ärztliche Entscheidungsfreiheit ist verloren.


Die ärztliche Entscheidungsfreiheit ist durch die finanzielle Bedrohung gleichermaßen in Bedrängnis, wie die ökonomische Handlungsfähigkeit des Arztes.

Ein ordentlich arbeitender Hausarzt, wird seine Entscheidungen darüber, welche Medikamente er welchem Patienten verschreibt nach sorgfältiger Abwägung verschiedener Überlegungen treffen. In erster Linie wird er rational medizinisch entscheiden, welche Medikation eine gute Evidenz für die relevante Erkrankung zeigt. Er wird aber auch überlegen, ob der spezielle Patient mit diesem Mittel die besten Therapieresultate erzielen wird.
Er kann also nicht nach einem vorgefertigten Schema entscheiden. Die individuelle Arzt-Patienten-Beziehung kann andere Therapien notwendig machen, als die jeweils billigste, von der Kasse gewünschte Therapie es vorschreibt. Die Intimität dieser Beziehung ist durch eine Sehr große Zahl von Variablen geprägt, die eine sehr individuelle Therapie nötig machen.

Wenn er nun durch seine medizinisch korrekte Wahl in die von der Kasse aufgestellte Falle tappt und über 25 % mehr an Geld für seine Patienten ausgab, als das der Schnitt seiner kollegen tat, dann muss er bezahlen. Er wird zu “Regresszahlungen” verurteilt. Dadurch ist er in der ärztlichen Entscheidung nicht mehr frei. Er kann nicht mehr das für den Patienten optimale Mittel finden, ohne sich in substantielle wirtschaftliche Gefahr zu bringen.

Wenn ein Arzt mit “Regresszahlungen” von durchschnittlich 40 000.-€ rechnen muss, dann ist seine Handlungsfreiheit verlorengegangen.

Nicht nur der real um diesen Betrag enteignete Arzt ist das Opfer, sondern auch alle Ärzte, die in ihren Entscheidungen das “Regress”-Risiko minimieren wollen, sind (je nach Sensibilität bewusst oder unbewusst) ihrer ärztlichen Primärkompetenz beraubt.In die ganz spezielle Beziehung haben sich gravierende Bedrohungen eingemischt, die den Arzt mit Macht von seiner eigenen Entscheidung weg zu bringen versuchen.

Besonders traurig ist die Tatsache, dass sich die meisten Ärzte in diesem Bedrohungsszenario eingerichtet haben, wie man auch in einer zerbombten Wohnung eine Normalität finden kann. Mit den Jahren bemerkt man gar nicht mehr, was alles in diesem Biotop verrückt ist. Der Alltag will gemeistert sein und man guckt drüber weg. Denn in den meisten Fällen gelingt es ja, dem "Regress" zu entgehen. Der kleine Erfolg davon gekommen zu sein wirkt systemstabilisierend. Der gelegentlich vernommene Einzelfall des unbekannten Kollegen, der insolvent wurde durch einen Regress über 40 000.-€ wird als Einzelfall eines unglaublich doofen Arztes dargestellt. So bleibt die durch verinnerlichte und dadurch unbewusste Angst flankierte Welt stabil.